Demokratischer Dissens in einer Gesellschaft der Vielen
Das 500jährige Schuljubiläum rückt immer näher und damit auch die Frage, ob diese lange Tradition der Schule außer dem Charme der großen Zahl noch mehr zu bieten hat. Aus diesem Grund steht das Thema Erinne- rung im Mittelpunkt der diesjährigen Rede. Gehen wir ganz zum Anfang unserer (Schul-) Geschichte zurück, können wir überrascht feststellen, wieviel uns Philipp Melanchthon und seine Zeit auch und gerade heute noch zu sagen vermögen. Der Humanist Johannes Reuchlin „gab“ ihm nicht nur den gräzisierten Namen Melanchthon und half bei der Erlangung der Professur in Wittenberg, sondern er vermittelte ihm auch die Gedanken des religiösen Dialogs. Mit der Absage an Hass und Fanatis- mus, klar formuliert in seiner Programmschrift »Augenspiegel« (1511), hatte der promovierte Jurist und Staatsmann Reuchlin eine europaweite Debatte ausgelöst und einen Resonanzsraum geschaffen für die Schlüsselbegriffe Toleranz, Respekt, Dialog und Menschenwürde. Diese Werte bildeten, modern formuliert, eine der Hintergrund- folien, auf denen Melanchthon seine Überlegungen zu einer Bildungsreform entwickelte.
Mit Mirjam Zadoff, Autorin, Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums und Professorin an der LMU, konnte für die achte Bildungsrede genau die richtige Rednerin gewonnen werden. Sie freut sich darauf, mit unserer Schulfamilie und der Stadtgesellschaft darüber zu sprechen, welche Verantwortung aus der Geschichte für die Zukunft erwächst. Denn wir haben uns sehr daran gewöhnt, in einer liberalen, rechts- staatlichen Demokratie zu leben, für die soziale Gerechtigkeit und der Schutz von Minderheiten, wenn auch nicht immer die Realität, so doch das erklärte Ziel ist.
Doch nur mehr zehn Prozent der Weltbevölkerung leben in funktionierenden Demokratien, und auch hier bei uns ist dieses Konzept fragil geworden. Wie können wir, besonders mit Blick auf die deutsche Erfahrung im 20. Jahrhundert, widerständig und solidarisch gegen die wachsende Polarisierung der Gesellschaft Position beziehen? Wie können wir die weitere Normalisierung rechtsradikaler Haltungen verhindern und uns nicht von Hass und Hetze davon abhalten lassen, gemeinsam Wege für ein zukünftiges Zusammenleben zu entwickeln?